AEL Reichenau: Lager und Zwangsarbeit
Shownotes
In der ersten Folge der neuen Staffel sprechen wir mit Sabine Pitscheider über das Arbeitserziehungslager Reichenau. In erster Linie sprechen wir über die Entstehung des Lagers, die Wahl des Standortes und andere Details dieses spezifischen Lagers. Im Verlauf des Gesprächs thematisieren wir aber auch generell die Situation der Lager und Zwangsarbeit in Tirol.
Rückmeldungen, Wünsche oder Anregungen zu den einzelnen Folgen können Sie gerne per E-Mail an podcast@innsbruck.gv.at schicken.
Das Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck finden Sie im Web unter diesem Link.
Wollen Sie von zu Hause oder unterwegs eine Entdeckungsreise durch Innsbruck machen, dann sollten Sie unseren Bilder-Blog Innsbruck erinnert sich besuchen, wo täglich vier neue Beiträge veröffentlicht werden. Es lohnt sich!
Transkript anzeigen
00:00:00: Tobias: Hallo und herzlich willkommen zur ersten Folge unserer dritten Staffel von Archivwürdig,
00:00:06: dem Podcast des Innsbrucker Stadtarchivs.
00:00:10: Zu Beginn unserer Staffel habe ich Sabine Pitscheider zum Gespräch eingeladen.
00:00:15: Sabine forscht seit vielen Jahren über die NS-Zeit in Tirol und war Teil der Expert:innenkommission
00:00:21: für die neue Gedenkstätte sowie Mitautorin einer Studie zum Arbeitserziehungslager Reichenau.
00:00:28: Gemeinsam sprechen wir vor allem über das Arbeitserziehungslager Reichenau,
00:00:31: aber auch ganz generell über die Lager- und Lagerarbeit in Tirol.
00:00:36: Intro-Musik] Tobias: Liebe Sabine, danke, dass du heute mit mir über das Arbeitserziehungslager Reichenau sprichst.
00:00:57: Was auch ja, ich sage jetzt mal, das übergeordnete Thema der Staffel ist.
00:01:01: Und fangen wir vielleicht einfach wirklich ganz an der Basis an zum Arbeitserziehungslager Reichenau.
00:01:08: Seit wann gibt es denn das Arbeitserziehungslager Reichenau?
00:01:11: Sabine: Seit dem Winter 1941/42.
00:01:14: Und ursprünglich war daran gedacht, ein Auffanglager für italienische Arbeitskräfte zu errichten.
00:01:20: Weil das war genau die Zeit, als italienische Arbeitskräfte massenhaft aus dem deutschen Reich wieder Richtung Heimat wollten.
00:01:26: Und viele wurden am Brenner aufgegriffen.
00:01:28: Und das deutsche Reich wollte keine Arbeitskräfte verlieren.
00:01:31: Und daher war daran gedacht, die irgendwo zu sammeln und weiter zu verteilen, also nach einer Bestrafung.
00:01:36: Weil das war ja Arbeitsflucht und war verboten.
00:01:39: Und als die italienische Regierung davon erfuhr, waren sie nicht begeistert,
00:01:43: weil offiziell war Italien ja ein Verbündeter des deutschen Reiches
00:01:46: und mit Freunden geht man ja normalerweise so nicht um.
00:01:49: Und dann war eben die Weisung, ja gut, wenn das kein Auffanglager ist,
00:01:52: dann machen wir ein Arbeitserziehungslager
00:01:54: und Arbeitserziehungslager gab es über das ganze Reich verteilt, über 100.
00:01:58: Und die waren zur Disziplinierung vorgesehen.
00:02:01: Für jede Arbeitskraft, egal welche Staatsbürgerschaft.
00:02:04: Und dort sollten die Menschen diszipliniert zur Arbeit erzogen unter Anführungszeichen zu sehen, bitte.
00:02:11: Erzogen werden und nach einer gewissen Zeit der äußerst schlechten Behandlung wieder zurück an ihre alte Arbeitsstelle kommen
00:02:17: und dort weiter erzählen, wie schlecht es ihnen gegangen ist, damit die anderen nicht auch auf die Idee kommen, sich zu widersetzen.
00:02:23: Tobias: Die Wahl des Standortes, das ist ja nicht ganz willkürlich.
00:02:27: Sabine: Es war nicht willkürlich, wie du sagst.
00:02:29: Das NS-Regime hat dringend Lager gebraucht, um die vielen Arbeitskräfte unterzubringen,
00:02:32: egal ob jetzt Kriegsgefangene, freiwillige Zivilarbeiter oder Zwangsarbeiter.
00:02:36: Und haben meistens an Stadträndern oder Ortsrändern versucht, diese Infrastruktur zu schaffen.
00:02:43: Und das erste Lager in der Reichenau in diesem Gebiet, wo dann das AEL stand, war das Kriegsgefangenenlager der Stadt Innsbruck.
00:02:50: Und gleich anschließend war dann ein Zivilarbeiterlager der Stadt Innsbruck, im Laufe der Jahre
00:02:54: kam noch ein Lager der Reichspost und ein Lager der Reichsbahn.
00:02:57: Und der Standort war insofern günstig gewählt aus NS-Sicht
00:03:01: Mit der Nordbrücke konnte man auf die andere Innseite
00:03:05: und dort war eine Straßenbahnhaltestelle.
00:03:07: Und zugleich lagen diese Lager fußläufig entfernt von den großen Baustellen der Stadt Innsbruck in Pradl.
00:03:14: Und damit zu Fuß auch erreichbar.
00:03:17: Tobias: Du hast nämlich jetzt eh schon angesprochen, die anderen Lager, was es ja noch auf städtischem Gebiet gab.
00:03:22: Wie ist denn auch das Arbeitserziehungslager jetzt von der Größe her einzuordnen auf Innsbruckerboden oder auch von der Wichtigkeit des Lagers?
00:03:31: Im Gegensatz vielleicht zu den Innsbrucker-Lagern noch oder weiteren Lagern.
00:03:35: Und vielleicht auch, wenn wir ein bisschen schauen, auf Tirol ein bisschen im Verhältnis sozusagen.
00:03:41: Sabine: Innsbruck selber hat, also normalerweise hat jede größere Gemeinde ein eigenes Lager gehabt.
00:03:46: Die haben normalerweise die örtlichen Gewerbebetriebe ihr Personal eingemietet und dafür bezahlt.
00:03:52: Das heißt, das war im Prinzip wie ein Wirtschaftsunternehmen.
00:03:54: Genauso war das für die Stadt Innsbruck.
00:03:56: Und in den Lagern der Stadt Innsbruck in den beiden kamen theoretisch 750 Menschen unter.
00:04:01: Also es gab 750 Schlafstellen.
00:04:03: In Notfällen waren es oft mehr.
00:04:06: Und dann gab es eben die Lager von Firmen.
00:04:10: Das heißt, einige Unternehmen, vor allem Baufirmen, hatten eigene Firmenlager.
00:04:14: Die waren meistens klein, 100/150 Männer und wurden dann wieder verlegt, wenn die Baustelle fertig war.
00:04:20: Das heißt, das waren wirklich so Wanderlager.
00:04:23: Und das heißt, in Innsbruck selbst haben wir eben die Lager der Stadt Innsbruck mit an die 750 Personen.
00:04:31: Die kleineren Firmenlager oder größeren.
00:04:34: Und das AEL war mit 800 möglichen Unterbringungsplätzen gehörte zu den Großlagern von Innsbruck.
00:04:43: Die größten Lager in Tirol hatten aber die Lager der Kraftwerksbauten.
00:04:47: Also die TIWAG im Unterinntal und die Westtiroler Kraftwerke in West Tirol.
00:04:53: Und das waren, entschuldige ganz kurz, das waren Lager so mit 1.000, 1.500, 2.000.
00:04:58: Tobias: Das sind dann, so blöd das jetzt klingt, aber auch Häftlinge oder Inhaftierte von den Lagern,
00:05:05: also Tirol weit auch ausgetauscht worden, also dass sie für Arbeitseinsätze dann zum Beispiel ins Unterinntal gekommen sind.
00:05:13: Dort da dann für eine Zeit geblieben sind und dann wieder zurückgekehrt ins Arbeitslager kommen sind?
00:05:17: Sabine: Das war ganz üblich.
00:05:18: Das heißt, normalerweise eine Arbeitskraft, egal ob jetzt Zivil-, Kriegsgefangener oder zwangsverpflichtet,
00:05:24: konnte sich den Arbeitsplatz nicht aussuchen.
00:05:26: Zugeteilt hat das das Arbeitsamt nach wirtschaftlichen Überlegungen.
00:05:30: Das heißt, es war ganz üblich, dass jemand, der vielleicht zuerst beim Lager der Baufirma Retter auf der Ulfiswiese war,
00:05:37: kam dann ins Ötztal oder dann zu den Illwerken und im Winter vielleicht wieder zurück in die Stadt.
00:05:42: Das heißt, wir haben es zwar immer mit sehr vielen Menschen zur selben Zeit zu tun, die aber nicht immer die gleichen Menschen waren.
00:05:48: Tobias: Weil wir ja auch schon das Thema kurz angeschnitten haben.
00:05:52: Arbeitseinsätze sind an einer Baustelle, an ein Bauvorhaben gekommen.
00:05:58: Wie ist denn der formale Ablauf, wie man als Firma zum Beispiel an eine Arbeitskraft,
00:06:05: nennen das jetzt Arbeitskraft, das sind ja zwangsverpflichtete,
00:06:08: kommt, ist das ein formeller Akt, ein Schreiben, was man abschickt und dann bekommt man die Person?
00:06:15: Sabine: Es war komplizierter. [beide lachen]
00:06:18: Sabine: Also zuständig war einzig und allein das Arbeitsamt.
00:06:21: Das heißt, wenn eine Firma eine Arbeitskraft brauchte, männlich, weiblich, alt, jung, egal,
00:06:25: musste ein Ansuchen an das Arbeitsamt gestellt werden.
00:06:28: Und dann musste man beweisen, dass man die Arbeitskraft auch unterbringen konnte.
00:06:32: Deshalb gab es ja diese vielen Firmenlager und Gemeindelager.
00:06:35: Und erst wenn das gesichert war, ging das Arbeitsamt daran, so eine Person zu suchen.
00:06:40: Es gab mit befreundeten Staaten, hatte das NS-Regime Anwerbeabkommen,
00:06:44: mit Italien, Bulgarien, Ungarn und so weiter.
00:06:47: Und das heißt, in diesen Ländern gab es Anwerbebüros, wo sich Menschen bewerben konnten,
00:06:52: um eine Arbeit im Deutschen Reich, wenn sie gesund und arbeitsfähig waren
00:06:55: und nicht feindlich eingestellt, kamen sie ins Deutsche Reich zur Arbeit.
00:06:58: Das waren die Freiwilligen.
00:07:00: Wobei die Freiwilligkeit sich sehr relativiert, weil wenn sie im Deutschen Reich,
00:07:03: wenn ihnen die Arbeit nicht gefiel und sie wollten gehen, ging das nicht mehr.
00:07:06: Und ab dann war das eher eine Zwangsarbeit.
00:07:10: Und das Arbeitsamt hat dann eben bei diesen Anwerbebüros angefragt
00:07:14: und es kamen immer wieder... entweder die Leute kamen einzeln ins Reich oder mit Transporten.
00:07:19: Und mit Transporten kamen sie vor allem aus den besetzten westlichen Gebieten der Sowjetunion,
00:07:26: heute Ukraine und Weißrussland, die unterlagen besonderen strengen Bestimmungen.
00:07:32: Sie mussten ein eigenes Kennzeichen tragen, damit jeder sofort wusste,
00:07:35: dass er es mit unter Anführungszeichen "Untermenschen" zu tun hatte.
00:07:39: Und mit diesen Deportationszügen kamen sie gesammelt ins Reich
00:07:43: und wurden dann an die Arbeitsämter verteilt und die Arbeitsämter verteilten sie dann wieder auf die einzelnen Firmen.
00:07:48: Wann die Arbeitskraft einlangte, konnte niemand sagen, weder das Arbeitsamt noch sonst wer,
00:07:53: das heißt im Prinzip haben die Firmen, die wirklich Arbeitskräfte brauchten,
00:07:57: eine enorme Ausdauer gebraucht, bis sie überhaupt jemanden bekommen.
00:08:02: Sie durften nicht jemanden einstellen, der sich frei bei ihnen beworben hatte, das war nicht möglich.
00:08:06: Es kam zwar vor, aber theoretisch war das nicht möglich.
00:08:09: Einzig zuständig, das Arbeitsamt.
00:08:11: Tobias: Wäre es auch möglich gewesen, dass die Arbeitskraft auch einfach gar nicht gefunden worden ist
00:08:15: und dann sozusagen es nie zur Überstellung einer Arbeitskraft gekommen ist?
00:08:20: Sabine: Ja, das ist durchaus vorkommen.
00:08:22: Das Arbeitsamt, da hat einfach die Meldung lapidar gelautet, derzeit nicht möglich.
00:08:26: Drehgeräusch] Tobias: Gehen wir vielleicht wieder nur den Schritt zurück zum Arbeitserziehungslager in der Reichenau.
00:08:34: Du hast ja schon gesagt, die werden registriert, an und für sich,
00:08:38: kommen herein, die kommen jetzt aus dem Osten, verschiedene Standorte,
00:08:42: die treffen in dem Lager ein,
00:08:44: werden die dann.. oder wie penibel werden die auch registriert, die Ankommenden?
00:08:50: Sabine: Das war davon abhängig, ob es Kriegsgefangene oder Zivilarbeiter waren.
00:08:54: Kriegsgefangene wurden in den Kriegsgefangenenstammlagern,
00:08:58: die meisten, die nach Tirol kamen, kamen aus Markt Pongau, heute St. Johann im Pongau.
00:09:03: Die hatten eine Nummer und der ganze Schriftverkehr lief zwischen der Leitung des Stammlagers und dem Arbeitsamt.
00:09:10: Das Unternehmen selbst hatte damit nichts zu tun.
00:09:12: Das mietete nur die Arbeitskraft dieser Männer.
00:09:15: Und wöchentlich musste das Kriegsgefangenenlager dem Bürgermeister des Ortes, wo das Lager lag,
00:09:20: melden, wer in diesem Lager momentan interniert war, inhaftiert war
00:09:26: und welcher Firma diese Leute zugeteilt waren.
00:09:29: Diese Listen gibt es großteils nicht mehr.
00:09:31: Bei Zivilarbeitern war das so, das lief unter dem Ausländerbeschäftigungsgesetz,
00:09:35: so wie heute. Es gab bei jeder Bezirkshauptmannschaft eine Ausländerbehörde,
00:09:39: da gab es dann eine befristete Aufenthaltsbewilligung, die Menschen, wurden sozial versichert,
00:09:44: und bekamen einen eigenen Ausweis als ausländische Arbeitskraft, so wie wir das heute auch kennen.
00:09:50: Tobias: Wie siehst du den Unterschied jetzt von einem Arbeitserziehungslager zu einem Konzentrationslager?
00:09:56: Sabine: Der Hauptunterschied liegt im Zweck des Lageraufenthalts.
00:10:02: Um das jetzt einmal... Tobias: Pauschal zu sagen. Es ist schwierig des... Sabine: Es ist sehr schwierig, aber normalerweise, muss man sagen, in einem AEL war das Ziel nicht der Tod des Menschen,
00:10:13: weil der sollte ja wieder in einen Arbeitsprozess zurück.
00:10:16: Und nachdem es an Arbeitskräften ja gemangelt hat, war im Prinzip die Erhaltung der Arbeitskraft das Ziel.
00:10:22: Das hat mit der Praxis im Arbeitserziehungslager dann herzlich wenig zu tun.
00:10:30: Was aber auch daran liegt, dass das Arbeitserziehungslager Innsbruck jede Menge andere Funktionen übernommen hat.
00:10:37: Es war zum Beispiel ein Transitlager für depotierte Jüdinnen und Juden aus Italien, auf ihrem Weg nach Auschwitz.
00:10:43: Und während sie hier interniert waren, mussten sie natürlich auch Arbeit leisten und wurden extrem schlecht behandelt,
00:10:50: weil sie als unter Anführungszeichen "Untermenschen" überhaupt keinen Lebenswert hatten.
00:10:54: Oder Arbeitskräfte, die nach dem Italien abgefallen ist, ab Sommer 1943, wurden Arbeitskräfte Italiener,
00:11:04: die streikten über das Lager Reichenau in das deutsche Reich deportiert.
00:11:09: Die wurden extrem schlecht behandelt.
00:11:11: Die haben einige Tote aus diesen depotierten italienischen Arbeitern.
00:11:15: Und dann hat das Lager noch die Funktion eines, nennen wir es, Depot für politisch Missliebige.
00:11:25: Zum Beispiel als im Sommer 1944, das Attentat auf Hitler scheiterte,
00:11:29: kam es ja im ganzen Reich zu Verhaftungen.
00:11:31: Und auch in Tirol, wo diejenigen, die als politische Feinde angesehen wurden, interniert im Arbeitserziehungslager Reichenau.
00:11:38: Noch einmal war das der Fall im April 1945 dann.
00:11:42: Oder wir haben im Frühjahr 1943 diese Aktion, dass der Gauleiter Hofer wollte Tirol unbedingt judenfrei bekommen
00:11:50: und hat einfach die jüdischen Ehepartner von Arischen in arischen Ehen verhaften lassen
00:11:56: und hat sie im Arbeitserziehungslager Reichenau deponiert, auf ihrem Weg nach Auschwitz.
00:12:02: Diese Menschen wurden wieder anders behandelt.
00:12:04: Das heißt, wir haben einerseits eben diese Arbeitserziehung, wo das Ziel war, nicht töten,
00:12:09: weil die Arbeitskraft erhalten bleiben soll und dann haben wir wieder Menschen dort inhaftiert gehabt,
00:12:14: wo es egal war, ob sie leben oder sterben.
00:12:17: Und das hat einfach mit dem Funktionswandel des Lagers zu tun, dass es sehr schwierig zu sagen ist,
00:12:22: wo der Unterschied zu einem KZ eigentlich sein soll.
00:12:26: Tobiaa: Ich verstehe ja, weil es einfach die, die, von Personengruppen im Lager schon unterschiedlich ist.
00:12:32: Sabine: Es ist einfach davon abhängig gewesen, wie das NS-Regime einen Menschen eingestuft hat in seinem "Wert".
00:12:38: Und es hat eben Wertlose gegeben und Menschen, die wertvoller waren.
00:12:42: Also die Vorschriften haben eigentlich besagt, dass jemand maximal 56 Tage zur Arbeitserziehung dort bleiben soll.
00:12:48: Und Arbeitserziehung hat dann bedeutet, Zwangsarbeit normalerweise für die Stadt Innsbruck.
00:12:52: Tobias: Du hast gesagt, normalerweise, das heißt, das ist nie der ... also ...
00:12:56: Sabine: Mit der Zeit haben sich die Grenzen, je länger der Krieg gedauert, hat desto eher sind Vorschriften einfach ignoriert worden.
00:13:02: Und zum Beispiel diese Grenze von 56 Tagen hat nicht für die sogenannten Ostarbeiter gegolten und für diese Deportierten aus der West-Sowjetunion.
00:13:09: Die durften unbegrenzt ausgebeutet werden, weil die waren sowieso ganz, ganz unten in der Hierarchie des Menschenwertes.
00:13:18: Und deshalb ... also es ist sehr schwierig zu sagen.
00:13:22: Tobias: Es ist nicht einfach.
00:13:23: Und deswegen habe ich mir gedacht, ich frags jetzt trotzdem einmal, weil es ist für die Menschen da draußen,
00:13:29: weil man hört immer Arbeitserziehungslager Reichenau aber ...
00:13:32: Sabine: Was ist das?
00:13:33: Tobias: Was ist das und warum gibt es dann KZ, warum gibt es die Auffanglager, dieses Lager, da ...?
00:13:39: Sabine: Ja. Das deutsche Lagersystem war sehr diffizil mit den unterschiedlichen Funktionen, die dazu geschrieben wurden.
00:13:45: Weil jetzt zum Beispiel, ein normales..., also in einem Kriegsgefangenen Lager war das Ziel nicht töten.
00:13:50: Tobias: Ja. Sabine: Das Ziel war Arbeitskraft ausbeuten.
00:13:52: Also in einem Arbeitskriegsgefangenenlager.
00:13:55: In den Stammlagern zum Beispiel war die Überlebenswahrscheinlichkeit je höher, desto westlicher du warst.
00:14:02: Also ein Sowjetischer Kriegsgefanger, die Überlebenswahrscheinlichkeit eines sowjetischen Kriegsgefangenen war gering,
00:14:07: weil die einfach schlechter behandelt wurden.
00:14:09: Weil je nachdem, woher jemand gekommen ist, hat man die Nahrung... die Menge an Lebensmitteln bekommen... oder eben nicht.
00:14:17: Tobias: Dasselbe wird auch für Kriegsgefangene gelten.
00:14:19: Sabine: Auch. Auch wobei bei den Kriegsgefangenen normalerweise die Stalagleitung da die Vorschriften gemacht hat.
00:14:26: Da hat das Regime selber nicht so eingreifen können.
00:14:29: Und die Stalag hat sich ja wirklich richten müssen, eigentlich nach der Genfer Konvention.
00:14:34: Da hat das NS-Regime nicht so radikal eingreifen können wie jetzt in einem Zivilarbeiterlager.
00:14:40: In einem Zivilarbeiterlager hat die Sache ja anders ausgeschaut.
00:14:43: Da war kein Rotes Kreuz und keine Genferkonvention.
00:14:46: Da hätten normale Menschenrechte genügt, aber Menschenrechte haben im NS-Regime einfach nicht existiert.
00:14:50: Zumindest nicht für diese Menschen.
00:14:52: Tobias: Feiner Unterschied.
00:14:53: Sabine: Es ist ein Unterschied.
00:14:54: Tobias: Aber das was viel ausmacht.
00:14:56: Sabine: Das macht ganz viel aus.
00:14:57: Es ist zum Beispiel dann so, ab dem Zeitpunkt, dass ab... sagen wir, dem Frühjahr 1942,
00:15:02: hatte das NS-Regime begonnen, Millionen von Menschen aus den westlichen Gebieten,
00:15:05: der Sowjetunion zu deportieren.
00:15:07: Und ab dem Zeitpunkt ist die Zahl der Kriegsgefangenenlager tendenziell zurückgegangen.
00:15:12: Und es sind mehr Ostarbeiterlager eingerichtet worden.
00:15:15: Weil die einfach... schlimmer zu behandeln waren, ohne dass einem was passiert.
00:15:20: Weil wenn man jetzt zum Beispiel schaut für die Disziplin, also wenn jetzt zum Beispiel ein Kriegsgefangener zu fliehen,
00:15:25: versucht hat, was sehr oft vorkommen ist, weil die Grenzen waren nahe und sehr verlockend.
00:15:30: Da war dann die Wehrmacht zuständig.
00:15:32: Das heißt, da wurde wieder aufgegriffen.
00:15:34: Da wurde ja Wehrmachts-Offizier informiert, da ist abgeholt worden und ins Stammlager zurückgebracht worden.
00:15:39: Versuchte ein Zivilarbeiter zu fliehen, war die Gestapo zuständig.
00:15:42: Das heißt, es war einfach viel einfacher.
00:15:44: Weniger Abstimmungsbedarf, nahe Befehlskette.
00:15:48: Und Zivilarbeiter haben, also gerade die sogenannten Ostarbeiter haben extrem wenig Geld verdient.
00:15:54: Das war kein Lohn, das war eine Art von Aufwandsentschädigung.
00:15:57: Und sie haben weniger zu Essen bekommen als andere.
00:16:00: Also man hat eine italienischen Arbeitskraft nicht mit dem Essen abspeisen können, das Ostarbeiter bekommen haben.
00:16:06: Tobias: Du hast gerade auch angesprochen, die Fluchtversuche vor allem bei den Kriegsgefangenen sind bei deiner Recherche,
00:16:13: ist dir untergekommen, dass es vom Arbeitserziehungslager auch Fluchtversuche gegeben hat?
00:16:17: Erfolgreiche oder unerfolgreiche?
00:16:20: Sabine: Keine.
00:16:21: Tobias: Keine, oder?
00:16:22: Sabine: Nein, also nicht nach den Akten.
00:16:25: Und das Problem mit den Akten ist, dass die Gestapo im April 1945 ihre Akten verbrannt hat.
00:16:32: Das heißt, wir wissen, über das Arbeitserziehungslager oft nur Bescheid aus Gerichtsprozessen,
00:16:38: aus Totenscheinen, aus Zeitzeugenaussaugen, aber nicht aus wirklich eigenem Aktenmaterial.
00:16:45: Tobias: Das wäre eh die nächste Frage, wie schwierig das ist,
00:16:49: ein Lager von der Größe auch irgendwie nachzuzeichnen, wo ja doch eine Vielzahl von der Aktenlage ja zerstört worden ist.
00:16:57: Sabine: Interessanterweise verstecken sich in Gemeindearchiven relativ,
00:17:00: viele Unterlagen. Das müsste man mal genauer, da müssten dann die Gemeindechronisten,
00:17:04: Ortschronisten sich einmal um diese Sache bemühen, weil Gemeindearchive oft wahre Schätze bergen,
00:17:09: die nirgendwo sonst mehr aufscheinen. Man bekommt relativ viele Informationen aus Prozessakten,
00:17:16: nach 1945, die Prozesse vor dem Volksgericht, die ja nicht nur Hochverrat geahndet haben,
00:17:22: sondern auch Kriegsverbrechen. Da bekommt man, also wenn dann ein Prozess gegen jemanden,
00:17:29: der Kriegsgefangene oder Zivilarbeiter misshandelt hat, da bekommt man Informationen, wie das einzelne
00:17:34: Lager funktioniert hat. Man bekommt Informationen eigentlich aus vielen verschiedenen Quellen,
00:17:40: Landesbauamt, wenn es darum geht er geeignet, einen geeigneten Standort für ein Lager zu suchen. Oder wenn
00:17:45: eine Firma möchte ein Lager errichten und wendet sich an das Stadtbauamt Innsbruck und das
00:17:50: Stadtbauamt sagt, nein, wir wollen nicht, dass man bei der Orts-Einfahrt sofort ein Lager sieht,
00:17:54: weil es wirklich auf den Tourismus abschreckend. Und deshalb ist ja zum Beispiel diese Lager in der
00:18:00: Reichenau, die waren ja alle relativ eng beieinander, einfach weil der Gauleiter gesagt hat,
00:18:05: ich will nicht, dass die Lager über die ganzen Stadt verteilt sind, es ist sicherheitsmäßig
00:18:08: einfach ein Unding. Die Firmen wollten, es war ein bisschen ein Widerstreit, die Firmen wollten die
00:18:12: Lager möglichst nahe beim eigenen Firmengelände und der Gauleiter wollte sie möglichst an
00:18:16: zwei Orten konzentriert haben, damit es nicht jedem gleich so auffällt. Tobias: Das ist eh ja auch ein guter
00:18:22: Punkt, den du da ansprichst, dass sie nicht jedem auffallen. Ich weiß es nur aus einigen
00:18:27: oder zumindest aus einem Interview, was ich geführt habe mit einer Zeitzeugin, die gesagt hat,
00:18:31: sie hat die nie gesehen durchmarschieren, die Zwangsarbeiter. Wie siehst du das? Es muss ja von
00:18:39: die Leute, vor allem wenn sie für Arbeitseinsätze ja von Firmen verwendet werden, die müssen ja
00:18:45: eigentlich wissen, woher die Leute sind oder wo die, also nicht, wo ihre ursprüngliche Heimat ist,
00:18:51: aber wo die derzeitig sind. Sabine: Mhm. Ja. Tobias: Also die Aussage quasi, wie man sie auch immer hat, man hat nichts gewusst.
00:18:58: Sabine: Nein, das ist unglaubwürdig. Zwangsarbeiter waren in jeder Gemeinde, auch in der Kleinsten und wenn sie
00:19:04: nur bei einem Bauern einer war, die waren überall. Und in der Stadt haben sie sich überhaupt nicht
00:19:11: verbergen lassen, weil zum Beispiel die Häftlinge des AEL mussten eigene Kleidung tragen und aus
00:19:15: Ressourcenmangel hat es diese eigene Kleidung nicht mehr geben, dann hat die Gestapo einfach die
00:19:18: Zivilkleidung der Gefangenen mit Ölfarbe beschmiert. Damit man erkennt, dass es Häftlinge sind.
00:19:23: Und normalerweise haben ja die Menschen ja Zivilkleidung getragen. Das heißt,
00:19:28: Zivilarbeiter sind mit Zivilkleidung angereist und Kriegsgefangene haben die Uniform getragen,
00:19:34: was ihre Flucht erschwert hat. Weil damit der Kriegsgefangene erfolgreich fliehen konnte,
00:19:39: hat er Zivilkleidung gebraucht und was auch noch sehr schwierig war, ist, dass Kriegsgefangene bekamen
00:19:44: Geld für ihre Arbeit, aber nicht in Reichsmark, sondern in Lagergeld. Das waren so Gutscheine,
00:19:49: die nur in der Lagerkantine eingetauscht werden konnten. Das heißt, wollte jemand erfolgreich
00:19:53: fliehen, brauchte er erstens mal gute Geografiekenntnisse, zweitens wenn möglich ein wenig Sprachkenntnisse,
00:19:59: drittens Zivilkleidung und viertens richtiges Geld. Tobias: Mhm. Nicht so leicht zum Erhalten. Sabine: Schwierig.
00:20:06: Tobias: Und vor allem ohne Mithilfe einer lokalen Bevölkerung. Sabine: Das hat die Mithilfe der
00:20:11: lokalen Bevölkerung gebraucht. Richtig.
00:20:13: Drehgeräusch] Wir haben jetzt sehr viel von den Zwangsarbeitern Kriegsgefangenen gesprochen. Gab es denn auch
00:20:23: weibliche Gefangene in der Reichenau bzw. in ganz Tirol?
00:20:28: Sabine: Also Kriegsgefangene sind per se männlich. Das ist klar. Unter den zivilen Arbeitskräften
00:20:34: muss man eben unterscheiden zwischen jenen, die aus verbündeten Staaten gekommen sind,
00:20:37: die theoretisch freiwillig waren. Dann diejenigen, die aus neutralen Staaten kommen, in Vorarlberg
00:20:43: betrifft es vor allem Bürger aus der Schweiz. Oder wo die Staatsbürgerschaft ungeklärt ist.
00:20:49: Aber wenn man sich, wenn man sich, es gibt verschiedene Statistiken zu verschiedenen
00:20:52: Zeitpunkten, im Dezember 1943 waren fast drei Viertel aller in Tirol Beschäftigten
00:20:59: Zivilarbeiter aus besetzten Staaten, die vermutlich nicht freiwillig da waren. Und wenn man sich diese
00:21:06: diese fast drei Viertel nochmal extra anschaut, dann muss man sagen, dass die überwältigende Mehrheit
00:21:12: davon kam entweder aus Polen oder aus den besetzten Westgebieten der Sowjetunion und hier
00:21:17: vor allem aus der Ukraine. Und was man noch einmal sieht, ist, wenn man sich das nach Geschlecht
00:21:22: anschaut, dass die überwiegende Mehrheit dieser Zwangsarbeiterinnen Frauen waren. Das heißt,
00:21:29: wir haben ab dem Frühjahr 1942 wird Zwangsarbeit nicht nur tendenziell weiblicher, sondern und
00:21:34: ganz wichtig tendenziell jünger. Deportiert wurden diese Menschen ab dem Alter von 14,
00:21:39: aber es waren auch jüngere möglich. Das heißt, wir haben in den meisten Lagern, die vor allem
00:21:44: mit Osterarbeiter:innen arbeiten, sind Jugendliche. Tobias: Die sind aber nicht hauptsächlich in der Reichenau
00:21:51: gewesen. Sabine: Nein, die waren vor allem in der Landwirtschaft, in den sogenannten Aufbaugenossenschaften.
00:21:56: Jedes Jahr hat der Gau Aufbaugemeinden ernannt und die wurden besonders mit Geldmitteln subventioniert,
00:22:02: Güterwegebau, Materialseilbahnbau usw. Und jede dieser Aufbaugemeinden hatte
00:22:08: ein eigenes, ein sogenanntes Russen- oder Ostarbeiterlager. Und da waren die Mehrheit weiblich.
00:22:13: Tobias: Kaum vorzustellen eigentlich. Sabine: Kaum vorzustellen. Andererseits hat das NS-Regime den
00:22:18: Menschen aus dem Osten einen nur einen geringen Menschenwert beigemessen. Was diesen Frauen
00:22:22: widerfahren ist, ist, die wurden nicht nur extrem ausgebeutet. Textilwirtschaft, Textilindustrie,
00:22:27: Landwirtschaft, teilweise auch beim Bau. Sie mussten auch erleiden, dass zum Beispiel,
00:22:31: wenn sie schwanger wurden, an ihnen Zwangsabtreibungen vorgenommen wurden.
00:22:34: Tobias. Ich könnte mir auch vorstellen... Sabine: Und Vergewaltigungen hat es natürlich auch gegeben.
00:22:38: Tobias: Ich wollt jetzt grad... Sabine: Richtig. Tobias: Das... Sabine: Ja, das ist Begleiterscheinung von Zwang.
00:22:44: Tobias: Das heißt, die waren in den Orten, also in den Einsatzgebieten vor Ort in eigenen Lagern.
00:22:49: Oder gibt es noch ein anderes Lager, was da in der Hinsicht für Frauen von Interesse oder von
00:22:54: Wichtigkeit ist? Sabine: Ja, also das AEL der Gestapo in der Reichenau war ja nur für Männer,
00:23:00: theoretisch. Es waren auch Frauen dort, aber nur kurzzeitig. Und das heißt, weibliche
00:23:05: Arbeitserziehungshäftlinge kamen in das Firmenlager der Firma Heinkel nach Jenbach,
00:23:09: heute Jenbacher Werk. Tobias: Und weiß man was mit den Frauen passiert ist, nach dem sozusagen, also entweder mit
00:23:15: Ende vom Regime, sind die dann alle wieder zurück in ihre Ursprungsländer gekommen?
00:23:21: Sind manche dageblieben? Ist das schwer zu fassen, wahrscheinlich, oder? Sabine: Es ist schwer zu fassen.
00:23:26: Das ist ein leeres Forschungsfeld, was Tirol angeht. Wichtig ist dabei zu unterscheiden,
00:23:32: aus welchem Land kamen sie. Also Französinnen, die gingen natürlich zurück, Niederländerinnen
00:23:36: und so weiter. Aber bei den Verschleppten aus dem Osten hängt es davon ab, aus welchem Land
00:23:41: sind sie gekommen und haben sie noch familiäre Bindungen? Weil zum Beispiel, wie es in der
00:23:45: Ukraine war, die Ukraine war großteils zerstört. Viele Familien existierten einfach nicht mehr.
00:23:51: Die Frauen waren jung, 15, 16 Jahre, viele sind hier geblieben, manche haben hier geheiratet
00:23:56: und Kinder bekommen, ganz normal. Tiroler Familie geworden. Andere sind zurück und
00:24:01: es war vor allem schwierig in Länder zurückzukehren, die von der sowjetischen Armee besetzt waren,
00:24:07: weil viele wurden verdächtigt, sich mit dem Feind eingelassen zu haben, egal ob sie jetzt
00:24:12: deportiert worden sind oder nicht. Und sie galten als Volksverräter und Landesverräter.
00:24:18: Es war sehr, sehr schwierig. Und was es auch noch gegeben hat, wir haben in Tirol ja einige große
00:24:23: Lager. Das größte Lager für ehemalige Zwangsarbeiter war das in Kufstein auf dem Kasernengelände.
00:24:29: Und ab 1945/46 bemühte sich die damalige UN-Flüchtlings-Hilfsorganisation darum,
00:24:36: für sie Aufnahmeländer zu finden. Also Auswanderung Südamerika, USA, Frankreich,
00:24:43: Weg aus Europa. [Drehgeräusch] Tobias: Und machen wir wieder einen Sprung ein bisschen in der Zeit. Wir gehen auf das Ende
00:24:54: des Krieges zu. Das Lager ist befreit worden. Gibt es da Berichte wie über die Befreiung des
00:25:01: Lagers oder Erinnerungen an die Befreiung des Lagers? Sabine: Es gibt erste Ermittlungen,
00:25:06: weil die Amerikaner sind angereist mit einer eigenen Kriegsverbrecher-Abteilung. Es gibt
00:25:12: erste Berichte dieser Kriegsverbrecher-Abteilung, die versucht haben Zeugenaussagen aufzunehmen,
00:25:17: auch mit Tätern. Und aber es gab Anfang Juli 1945, einen Zonentausch. Und dann kam die
00:25:23: französische Militärregierung und die musste wieder von vorne beginnen. Und das heißt,
00:25:28: wir haben eigentlich bis zum großen Prozess gegen den Gestapo-Chef Hilliges und einigen
00:25:33: Tätern des AEL gab es zwar Gerüchte und es gab immer wieder kleinere Prozesse, aber so diese
00:25:39: große, geballte Information haben wir eigentlich im Prinzip erst mit den Ermittlungen gegen diese
00:25:45: Personen. Tobias: Und sind da Unterlagen von den Ermittlungen wahrscheinlich dann in Paris noch verwahrt? Oder
00:25:51: gibt es da auch lokale noch? Sabine: Sie sind teilweise in Paris, weil der Prozess gegen Hilliges und die
00:25:57: anderen nicht vor einem österreichischem Gericht stattgefunden hat, sondern vorm
00:26:00: französischem Gericht in Innsbruck. Tobias: Im.. wie heißt es... Im? Sabine: Im Landhaus. Ja, weil sobald unter den misshandelten oder
00:26:10: Toten, Angehörige der Alliierten waren, also US-Amerikaner, Briten und so weiter, hat die
00:26:16: französische Militärjustiz übernommen. Und das war dann eben ein Höchstgericht in Innsbruck.
00:26:21: Und das heißt, wir haben bei dem Reichenauprozess einerseits Unterlagen aus Paris,
00:26:26: aber auch sehr viele Ermittlungsunterlagen aus Innsbruck selbst. Tobias: Gibt es auch Zahlen zu,
00:26:31: wie viele angeklagt worden sind? Also, ich will jetzt gar nicht auf die Personen im
00:26:36: Einzelnen eingehen, aber grundsätzlich, wie viele Anklagen es gibt, wie viele
00:26:39: was weiß ich Freisprüche, wenn überhaupt und so weiter es kam. Sabine: Bei dem Prozess gegen
00:26:45: Hilliges waren noch fünf Männer angeklagt. Alle fünf waren Täter des Arbeitserziehungslagers.
00:26:51: Das Problem war, als im Sommer 1945 das NS-Regime zusammenbrach, herrschte Chaos,
00:26:59: und viele der Täter des Arbeitserziehungslagers waren Reichsdeutsche. Und im Sommer 1945 war
00:27:07: der Wunsch der Tiroler Landesregierung und auch der französischen Militärregierung im Land,
00:27:13: möglichst viele Personen auszuweisen, damit weniger Menschen Nahrung brauchten. Und die
00:27:18: Deutschen galten als Sicherheitsrisiko und als Träger des Nationalsozialismus, was es erlaubt
00:27:23: hat, so zu tun, als seien Tiroler immer brav gewesen und demokratisch. Na gut, auf alle Fälle hat
00:27:29: es bedeutet, dass viele der Täter des AEL wurden vernommen, wurden auch teilweise interniert,
00:27:36: aber dann als Reichsdeutsche ausgewiesen. Und wir haben einige Prozesse in Deutschland teilweise
00:27:44: erst in den 70er Jahren gegen diese Täter. Die wurden ausgewiesen und dann waren sie weg. Es gab zwar
00:27:49: immer wieder Anfragen, wenn die französische Militäre gehen, ja, wir brauchen den zur Vernehmung,
00:27:52: ja, tut uns leid, der ist es weg. Das heißt, aber das kann man den Tiroler Behörden nicht
00:27:59: vorwerfen, weil sie wussten das zu der Zeit ja nicht. Tobias: Das heißt, eigentlich, sie sind nach
00:28:04: Deutschland gegangen, dann ist irgendwie der Faden abgerissen sozusagen. Sabine: Genau, das heißt, und dann
00:28:10: konnte man sie ja nicht mehr in Österreich vor Gericht stellen. Es gab zwar immer wieder Ermittlungen
00:28:15: gegen diese Personen, aber die Bundesrepublik hat nicht ausgeliefert bei politischen Delikten.
00:28:18: Gauleiter Hofer zum Beispiel. Tobias: Ich wollte grad sagen, Gauleiter Hofer prominentestes Beispiel? Sabine: Prominentestes Beispiel, der Akt ist
00:28:24: einige zehn Zentimeter dick und das waren immer Auslieferungsbegehren, aber die Bundesrepublik hat
00:28:30: nicht ausgeliefert und viele dieser Täter des AEL, das waren ganz normale, das waren ja normale
00:28:37: Menschen, die gingen in ihre Zivilberufe zurück, lebten ganz zufrieden und erst oft Jahrzehnte
00:28:42: später kamen dann, kam es dann auf und dann brauchte es engagierte Gerichte und das war in der
00:28:48: Bundesrepublik nicht anders wie bei uns. Es braucht engagierte Gerichte, um Täter von Gericht zu bringen.
00:28:52: Drehgeräusch] Jetzt ist das Arbeitserziehungslager befreit. Die Lager werden aber nicht zerstört, die bleiben
00:29:01: erhalten, die bleiben auch in städtischen Besitz glaube ich. Die Nachnutzung sieht ja auch...ist ja auch
00:29:06: eine brisante Zeit, muss man sagen. Sollen wir mal kurz zum Einzelfall jetzt auf das Arbeitserziehungslager
00:29:13: Reichenau eingehen und vielleicht dann in einem zweiten Schritt, wie das auch in Tirol ausgeschaut hat.
00:29:19: Sabine: Ja, das Arbeitserziehungslager hat nicht der Stadt Innsbruck gehört, das hat im Landesarbeitsamt
00:29:24: gehört und damit zuständig war das Landesbauamt und die Landesgebäudeverwaltung, wo übrigens auch
00:29:29: die Akten liegen. Ein Lager per se, das waren Barackensiedlungen und je nach Bauart, das heißt je
00:29:37: früher das Lager gebaut worden ist, desto besser war es baulich beieinander, weil es auf einem Beton
00:29:42: Fundament war. Je später es errichtet worden ist, desto schlimmer war die Bausubstanz, weil dann
00:29:47: höchstens ein Pfahlrost Fundament war und die sind sehr vom Verfall bedroht worden. Aber angesichts
00:29:52: von Wohnungsnot sind die Lager einfach bis weit in die 60er bis teilweise Anfang der 1970er Jahre
00:29:59: hin als Notwohnungen benutzt worden. Der Lagerkomplex Reichenau, also inklusive Kriegsgefangenen,
00:30:05: Zivilarbeiterlage der Stadt, Bahn und Post, AEL, wurden benutzt als Heeres Entlassungsstelle,
00:30:11: weil jeder Wehrmachtssoldat der nach Innsbruck zurückgekommen ist, braucht ein Entlassungspapier,
00:30:16: das wurde dort draußen erledigt, sowohl die Amerikaner als auch danach die französische
00:30:20: Militärregierung haben das Lager benutzt als Internierungslager für Nazis, bevor entschieden
00:30:25: wird, was mit ihnen passiert war Gericht, deportieren etc. Und die Stadt Innsbruck hat immer
00:30:29: versucht, sobald eine Baracke frei geworden ist, haben sie versucht dort Notwohnungen einzurichten.
00:30:33: Im Prinzip entstand eine Armensiedlung und das ist in sehr vielen Lagern in Tirol passiert,
00:30:38: zum Beispiel das Lager der Messerschmiedwerke in Schwaz, wurde auch dann später nach
00:30:42: Internierungslager auch eine Armensiedlung. Baracken war ein begehrtes Gut. Und angesichts
00:30:50: der vielen Bombentreffer in der Stadt Innsbruck war die Wohnungsnot einfach so groß, dass man
00:30:53: wirklich jeden Raum besiedelt hat, der sich irgendwie geeignet hat als Schlafstätte. Tobias: Im
00:30:59: Idealfall nur vorübergehenderweise. Sabine: Im Idealfall vorübergehend, manche Menschen sind ja,
00:31:03: sind sehr, sehr viele Jahre dort gewesen, weil sie einfach zu arm waren und zu wenig verdient haben,
00:31:07: um sich eine anständige Wohnungen zu leisten. Das war eine Armensiedlung. Tobias: Meines Wissens ja auch in Wörgl war
00:31:11: eine in Kufstein war eine... Sabine: Viele, in jeder Gemeinde, in der es ein Lager gegeben hat,
00:31:16: waren das danach Notwohnungen. Außer die Baracke war in einem so miserablen Zustand,
00:31:20: dass wirklich nichts mehr gegangen ist. Tobias: Es ist schon zach eigentlich, wenn man so darüber nachdenkt. Sabine: Es ist zach. Weil die
00:31:26: Baracken, die später gebaut worden sind, weil das NS-Regime hat ja auch beim Barackenbau
00:31:30: Unterschiede gemacht, wer dort drin wohnt. Das heißt, tendenziell, wenn sie dort reichsdeutsche
00:31:35: Arbeitskräfte untergebracht haben, dann war die Baracke normalerweise mit Doppelwand,
00:31:39: mit Isolierschicht dazwischen oder mit doppelverglasten Fenstern. War es nur eine Baracke für
00:31:44: Russen, war das ein fensterloses Ding. Also da haben sie auch sehr großen Wert darauf gelegt,
00:31:50: dass man an der Art der Unterbringung kennt, welchen Wert die Menschen haben.
00:31:53: Tobias: Wieder eine ganz blöde Frage meinerseits, aber hat es dann zu Sarnierungsarbeiten an diese
00:32:00: ja schlechten Baracke geben, sei es jetzt in auch Reichenau oder was weiß ich auch anders in Tirol,
00:32:07: dass da Fenster getauscht worden sind... Sabine: Ja.
00:32:11: Tobias: War das schon, oder? Sabine: Mhm. Also die Stadt, das Städtische Bauamt Innsbruck hat sich sehr
00:32:16: darum bemüht, diese Barackennotwohnungen in der Reichenau auf einem Stand zu halten,
00:32:20: wo man sagt, ja, es ist gerade noch für Menschen geeignet.
00:32:25: Tobias: Und dann ich glaube bis in die 60er Jahre? Sabine: Bis in die 60er Jahre, bis zum Bau des Städtischen Bauhofs da draußen.
00:32:32: Tobias: Und da wurde ja dann komplett, quasi das gesamte Lagerkomplex sag ich jetzt einmal...
00:32:38: Sabine: Ja, dann wurden alle Baracken abgerissen, also die letzten verbliebenen Baracken abgerissen.
00:32:42: Es wurde ein neues Straßennetz angelegt, Rossaugasse, Trientlgasse und so weiter,
00:32:46: das hat es ja alles nicht gegeben vorher. Und es wurde Gewerbe angesiedelt.
00:32:50: Das heißt, in der Reichenau sehen wir heute genau nichts mehr.
00:32:54: Tobias: Bis auf den Gedenkstein und hoffentlich dann eine Gedenkstätte. Sabine: Genau.
00:32:59: Tobias: Zum Abschluss noch die Frage meinerseits, denkst du, es wäre sehr sinnvoll, wenn man zum Thema Lager
00:33:08: in ganz Tirol noch mehr Forschungszeit investieren würde?
00:33:13: Sabine: Ja, es wäre sehr sinnvoll. Was ich aufgearbeitet habe, sind die Akten des Amtes der Tiroler Landesregierung,
00:33:19: Landesbauamt und Wasserwirtschaftsamt etc. Akten Bezirkshauptmannschaft, was einfach großteils
00:33:24: noch fehlt, weil der Aufwand auch sehr groß wäre, sind Akten in Gemeindearchiven.
00:33:29: Aber da wären die Gemeindechronisten [Outro-Musik im Hintergrund beginnt] einfach gefordert, sich das Thema so mal anzunehmen.
00:33:33: Outro-Musik] Tobias: Archivwürdig ist eine Produktion des Stadtarchiv Innsbruck und Teil der Stadtstimmen, dem Audiokanal der Stadt Innsbruck.
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